„Als ich Kind war in den
20er bis 40er Jahren“
Auszüge aus lebensgeschichtlichen Interviews:
Hildegard W. (Jg. 1916)
Wenn ich aus der Schule kam,
hatte ich meine Tour zum Zeitungs-
austragen
"1923 gingen die Eltern nach Wittenberch,
wo auch Verwandte von Vater wohnten.
1924 holten sie mich auch, und so ging
ich ab 1924 in die Katholische Schule. Wir
war'n zwei Klassen, eine Klasse für die
Großen und eine Klasse für die Kleinen, so
zirka 90 Schulkinder.
Anfangs fiel es mir hier schwer, weil ich
die Kinder schlecht verstand. Ich hatte ja
zu Hause nur Platt jesprochen. Und wir
hatten zu Hause nur bis zwanzich gerech-
net, und in Wittenberg war 's schon bis
hundert. Aber ich habe das schnell nach-
geholt und bin gern zur Schule gegangen.
Mein Vater hat Zeitungen ausgetragen. Er
hatte mittachs eine große Tour nach Pies-
teritz und Apollensdorf. Wenn er im Winter
wegen hohem Schnee bis zum Austragen
der Abendzeitung noch nich' zu Hause
war, musste ich die Abendzeitung austra-
gen von achtzehn bis neunzehn Uhr unje-
fähr. Dann wurden die Schularbeiten
gemacht. Meine Mutter war zu Hause und
hat für ein Handarbeitsgeschäft gehäkelt
und gestrickt.
Ich habe für eine Familie noch die Kohlen
hoch geholt, bin einkaufen gegangen und
habe den Hund ausgeführt. Dafür bekam
ich 25 Pfennig pro Tag.
Mein Vater starb im Februar 1927, das war
sehr schlimm für uns, denn es gab ja
damals keine Unterstützung. Wir hätten
täglich Mittagessen aus der Wohlfahrts-
küche holen können, aber das wollte
meine Mutter auf gar keinen Fall. Sie trug
dann die Zeitungen aus. Wenn ich aus der
Schule kam, hatte ich meine Tour zum
Zeitung austragen. Dann ging ich ins
Handarbeitsgeschäft die Wege besorgen,
und dafür bekam ich täglich 20 Pfennich.
Nach der vierten Klasse bekam ich das
Angebot für eine Freistelle im Lyzeum. Als
ich meiner Mutter das erzählte, sagte sie:
'Nein, dann kannst du nicht mehr mit
Schürze in die Schule gehen, und so viel
Geld für neue Sachen, das ha'm wir doch
nicht. Das sind alles Kinder aus besseren
Häusern, die gehen nicht mit der Schürze
zur Schule.' So ging ich weiter in die
Katholische Schule. Es hat weh getan, aber
es nützte doch nüscht."
Otto F. (Jg. 1924)
Wir gingen in den evangelischen Kin-
dergarten zu Schwester Elisabeth
"Meine Mutter hatte als Handwerkerkfrau
mitzuarbeiten in der Werkstatt, und im
Laden die Kundschaft zu bedienen. Sie
hatte also nicht viel Zeit für uns, und des-
halb mussten wir in den Kindergarten.
Meine große Schwester Annemarie und ich,
wir gingen in den evangelischen Kinder-
garten, in das Katharinen-Stift vom Paul-
Gerhardt-Stift zu Schwester Elisabeth. Dort
war es schön. Wir hatten zwar nicht viel
Spielzeug, wir haben viel gesungen und
Sternchen geschnippelt und so was
gemacht. In der Adventszeit war dann ein
Basar. Dort konnte man Basteleien der
Diakonissenschwestern kaufen wie Krip-
pen und Kerzenständer und Transparent-
papierleuchter.
Wir waren dort alles Kinder von Geschäfts-
leuten und von Handwerkern."
Hans-Joachim K. (Jg.1935)
Diese Weihnachten 1941, die sind
mir so in Erinnerung geblieben
"Wir wohnten unterm Dach in einem
Mietshaus in Kleinwittenberg und hatten
ein Zimmer, eine schräge Küche und zwei
Dachkammern. Wasseranschluss war auf
dem Hof, Abfluss und Gas gab es nicht.
1939 wurde mein Bruder geboren, und
gleich darauf wurde unser Vater eingezo-
gen. Im Haus war er der einzige Mann, der
gleich Soldat wurde. Keiner nahm Rück-
sicht auf meine Mutter und uns zwei Kin-
der, im Gegenteil.
Weihnachten, das war '41, mein Vater
hatte Urlaub gekricht und musste am ers-
ten Weihnachtsfeiertag zurück an die
Front. Und zu dieser Weihnachtsfeier - da
habe ich meinen Puppenwagen geschenkt
gekricht und dazu noch eine Puppe. Die
habe ich noch, meine Puppe. Und diese
Weihnachten, die sind mir so in Erinnerung
geblieben. Mein Vater hat gesagt, dass wir
ihn nur zum Bahnhof bringen dürfen,
wenn niemand weint. Da stand dann hier
in Kleinwittenberg der Zug, und am Bahn-
hof hing ein Transparent 'Die Räder rollen
für den Sieg'. Wir haben uns umgedreht
und sind weggegangen, als der Zug
abfuhr. Und auf dem Weg nach Hause
haben wir alle fürchterlich geweint. Das
vergisst man nie, das war so ein trauriges
Weihnachten!"
Brigitte M. (Jg. 1935)
Meine Freundin tot und ich hatte den
Arm ab.
"Bis 1945 haben wir in Teuchel gelebt, bis
ich dann meinen Unfall zum Kriegsende
hatte. Das war in den letzten Kriegstagen,
im April, beim Beschuss von Wittenberg.
Wir holten noch aus Wittenberg Butter,
Zucker und andere Lebensmittel mit dem
Fahrrad. Und beim Wegräumen der Fahr-
räder, hörten wir plötzlich Geräusche. Das
waren so summende Geräusche. Und
plötzlich einen Knall. Und dann war alles
passiert. Meine Freundin tot und ich hatte
den Arm ab.
Wir zwei Mädchen hatten kurzzeitig
gespielt, nachdem wir die Räder wegje-
stellt hatten. Wir hatten Hasche zwischen
den Bäumen jespielt. Meine Freundin stand
vor dem Baum und hielt den fest. Und
dann das Geräusch, ich bin ausgerissen,
vor diesem Pfeifen. Ich hatte Angst und
wollte ins Haus. Und dann kurz vor dem
Haus bin ich gestürzt, dieser Volltreffer
ging auch in die Pumpe, die auf dem Hof
stand. Das Wasser kam in Fontänen aus
dem Brunnen. Überall Wasser. Ich wollte
ausweichen, dann hat's mich aber umge-
schmissen. Und dann lag ich in dieser
Suppe, überall Dreck!
Ich wollte aufsteh'n und merkte, der Arm
war weg, er war beschädigt. Meine Mutter,
die kam gleich runterjestürzt, als es
krachte und auch die Mutter meiner
Freundin. Und die hat dann ..., das habe
ich heute noch im Ohr, wie die offjeschrien
hat, als die ihr Kind da liegen sah!"
Reinhard Sch, (Jg. 1941)
Mit sechs Leuten in zwei Zimmerchen
"Am 26. Januar 1945 mussten wir unsere
sieben Sachen packen und Schlesien ver-
lassen. Bis zum Mittag sollten wir raus
sein. Es sollte ja nicht für lange Zeit sein,
wir sollten nur nicht den Russen in die
Hände fallen. Die haben uns dann unter-
wegs eingeholt, unsere Pferde und unse-
ren Wagen weggenommen. Dann besaßen
wir nur noch unsere nackte Haut und
unsere Betten. Wir haben uns dann einen
Handwagen 'besorgt'.
Wir kamen hier in Wittenberg mit dem Zug
an und wurden von Verwandten aufge-
nommen, die selbst nur zwei schräge
Kammern unter'm Dach bewohnten. In
diesen zwei Mansarden wohnten wir vier
Monate mit neun Personen. Geschlafen
wurde auf Stroh auf dem Fußboden, und
beim Essen wurde sich abgewechselt. Die
Erwachsenen hatten Bänke gezimmert,
damit man sich hinsetzen konnte. Essen
war sehr knapp, wir waren manchmal froh,
wenn man beim Pferdeschlächter was
ergattern konnte. Mit einem Flüchtlings-
pass konnte man dann von der Volkssoli-
darität im Schlossgarten was bekommen
zum Wohnen; z.B. einen Tisch, Teller,
Besteck, Bettwäsche oder auch Unterwä-
sche. Da kann ich mich noch erinnern,
dass meine Mutter Unterwäsche für mich
wollte. Und die sagten: 'Der bekommt
einen Hampelmann.' Mutter hat sich
fürchterlich aufgeregt, weil ich ja was zum
Anziehen brauchte und keinen Hampel-
mann zum Spielen, aber die meinten ja
Unterwäsche.
Später bekamen wir dann ein Behelfsheim
am Lerchenberg zugewiesen. Dort zogen
wir dann mit sechs Leuten in zwei Zim-
merchen. Oma, Opa, Mutter und wir drei
Kinder. Vater war noch in Gefangenschaft.
Es gab keinen Ofen, keinen Strom, kein
Wasser und keine Toilette in dem Behelfs-
heim, und trotzdem waren wir froh, es zu
besitzen."
Alfred L. (Jg. 1933)
Trainingshose und Gummischuhe zur
Konfirmation 1947
"In die Kirche musste ich ja immer gehen
und denn zum Konfirmandenunterricht.
Vor der Prüfung hab ich genau so gezit-
tert, wie vor dem anderen auch, und
vorbereiten mußt' mer uns eben da droff.
Und denn, meine Mutter krichte ein
Bezugsschein für mich zur Konfirmation.
Und da mussten wir nach Radis fahren,
und dort kriegte ich eine neue Trainings-
hose zu kaufen zur Konfirmation. Und die
hab ich dann an gehabt. Und ein paar
Gummischuh hab ich gehabt, die wurden
hier im Gummiwerk hergestellt. Gummi,
direkt schwarzer Gummi. Die kamen
300,00 Mark. Die haben wir noch gekauft,
dass ich noch 'in paar Schuhe hatte. `in
Kamm, der kam 30,00 Mark, auch von
Gummiwerk hier. Trainingshose und Gum-
mischuhe, aber 'n Schlips, so was hab ich
überhaupt nicht umgehabt. Mutter war
mitgegangen, und die Paten waren da.
Geschenke, nee, wir haben bloß geguckt
nach 'in bisschen Geld. Das war Alliierten-
geld. Ich hatte, das weiß ich noch, über
6000 Mark. Aber das hatte ja keenen Wert."
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